Die Kontrolle der Zunge im digitalen Zeitalter: Eine anglikanische Weisheit des 18. Jahrhunderts
In einem aufschlussreichen Artikel für The Gospel Coalition zeigt Joe Carter, wie die 300 Jahre alte Predigt eines anglikanischen Bischofs unsere moderne Social-Media-Kultur treffsicher analysiert. Joseph Butler (1692–1752), einer der einflussreichsten Moralphilosophen Großbritanniens, beschrieb eine geistliche Krankheit, die er „Redseligkeit“ nannte – eine prophetische Diagnose für eine Zeit, in der unsere digitalen Worte oft mehr über den Zustand unserer Seele verraten, als uns lieb ist. Butlers Weisheit ist eine willkommene Mahnung zur Besonnenheit und zur Integrität unseres christlichen Zeugnisses.
Der Artikel legt dar, dass Butler in seiner Predigt über Jakobus 1,26 nicht in erster Linie böswillige Verleumdung oder Lüge im Blick hatte, sondern etwas Subtileres und Allgegenwärtigeres. Es ging ihm um die „Neigung zum Reden, losgelöst von der Überlegung, was gesagt werden soll; mit sehr wenig oder gar keinem Bedacht darauf, Gutes oder Schlimmes zu tun.“ Wie Carter treffend bemerkt, ist dies eine fast klinische Beschreibung des zwanghaften Umgangs mit sozialen Medien. Butler beschrieb schon damals eine Dynamik, die wir heute täglich beobachten: Belanglose Gespräche weichen Klatsch, dieser steigert sich zu Skandalen und mündet nicht selten in regelrechter Rufschädigung. Der Antrieb dahinter ist oft nicht primär Bosheit, sondern der unstillbare Drang, den Strom an Inhalten am Laufen zu halten.
Carter hebt drei Ratschläge aus Butlers Predigt hervor, die als Leitlinien für einen gottgefälligen Umgang mit sozialen Medien dienen können:
1. Die Disziplin des Schweigens. Es gibt eine Zeit zu reden und eine Zeit zu schweigen. Manchmal, so der Artikel, ist die christlichste Reaktion auf einen provokanten Beitrag gar keine Reaktion. Denn wie Butler mit Sprüche 10,19 sagt: „Wo viele Worte sind, da geht’s nicht ohne Sünde ab.“
2. Die Kultivierung des Gesprächs. Leichtherzige Kommunikation hat ihren Platz, aber sie darf nicht die Zeit für unsere eigentlichen Pflichten verzehren oder lieblos werden. Carter leitet daraus Prüffragen für unsere Online-Aktivitäten ab: „Baut dieser Beitrag auf oder reißt er nieder? Ehrt dieser Witz die menschliche Würde? Oder füttere ich nur den Algorithmus, ohne Rücksicht darauf, ob meine Worte Gutes oder Schlimmes bewirken?“
3. Gnade im Reden über andere. Am gefährlichsten, so Butler, ist das Reden über die Angelegenheiten anderer. Carter fasst Butlers transformatives Prinzip so zusammen: „Wenn man Gutes über jemanden sagt, das er nicht verdient, geschieht ihm kein Unrecht. Sagt man aber Böses, das er nicht verdient, ist das eine direkte, formale Ungerechtigkeit.“ Die praktische Folgerung lautet: Seien wir langsam darin, Kritik zu teilen, und schnell darin, die Erfolge anderer zu feiern.
Butlers Analyse, von Carter meisterhaft für unsere Zeit erschlossen, ist mehr als nur ein Appell zu besserer digitaler Etikette. Sie führt uns zur Wurzel des Problems: unserem Herzen, das von Natur aus nach Geltung sucht und zur Lieblosigkeit neigt. Die Lösung liegt daher nicht allein in disziplinarischer Anstrengung, sondern in der verwandelnden Gnade des Evangeliums, die unser Verlangen nach Anerkennung in Christus stillt und uns befähigt, unsere Zunge – und unsere Tastatur – in den Dienst der Liebe zu stellen.
Der vollständige englische Artikel von Joe Carter erschien bei The Gospel Coalition.
Quelle: https://thegospelcoalition.org/article/the-18th-century-anglican-who-diagnosed-our-social-media-problem/
