Opfer des eigenen Erfolgs? Warum das Christentum nicht mehr notwendig erscheint
In einem aufschlussreichen Artikel für The Gospel Coalition stellt der Autor Collin Hansen eine tiefgreifende Frage, die viele Christen in Europa und besonders in Deutschland umtreibt: Warum fühlt sich der christliche Glaube in unseren wohlhabenden, sicheren Gesellschaften für so viele Menschen nicht mehr notwendig an? Hansens Analyse bietet eine ernüchternde, aber wichtige Perspektive, indem er argumentiert, dass gerade der historische Erfolg des Protestantismus zu seiner heutigen gefühlten Irrelevanz beigetragen haben könnte.
Hansen beginnt seine Überlegungen mit einer Beobachtung in einer Kopenhagener Kathedrale, wo einige wenige Beter im Kontrast zu den geschäftigen, sorglosen Menschenmassen auf den Straßen stehen. Diese Szene illustriert für ihn eine grundlegende Verschiebung, die der Philosoph Charles Taylor beschrieben hat. Hansen fasst es prägnant zusammen: „Zu Luthers Zeiten musste man sich von der Religion abmelden. In unserer Zeit muss man sich anmelden.“ Der Glaube ist nicht mehr die Voreinstellung, sondern eine bewusste Wahl unter vielen.
Der Artikel führt aus, dass historisch protestantische Gesellschaften wie in Skandinavien oder Neuengland zu den säkularsten der Welt gehören. Hansen sieht darin ein Paradoxon: Der Protestantismus war so erfolgreich darin, die Kultur zu prägen – durch die Förderung von Alphabetisierung, Wohlstand, sozialer Verantwortung und einer verinnerlichten Moral –, dass die Institution Kirche überflüssig zu werden schien. Wenn der Staat für soziale Sicherheit sorgt und die biblischen Gebote über Generationen hinweg zum allgemeinen Kulturgut geworden sind, wozu braucht man dann noch die Predigt am Sonntagmorgen? Der Protestantismus, so die These, wurde zum Opfer seines eigenen Erfolgs.
Ein weiterer entscheidender Faktor sei die enge Verbindung von Kirche und Staat in vielen protestantischen Ländern. Hansen zitiert den Historiker Larry Hurtado, der argumentiert, dass eine erfolgreiche religiöse Bewegung eine „mittlere Spannung“ zu ihrer Kultur aufrechterhalten muss. Staatskirchen neigen jedoch dazu, diese Spannung abzubauen, um die soziale Kohäsion zu fördern, und passen sich schleichend den kulturellen Normen an, anstatt ein prophetisches Gegenüber zu bleiben. Nach den Katastrophen der Weltkriege, so der Artikel weiter, habe der Westen einen neuen Konsens auf der Grundlage säkularer Menschenrechte geschaffen, der bewusst auf Gott verzichtete. Das Ergebnis ist unsere heutige Situation: „Wir haben das Christentum verinnerlicht, aber wir wollen es nicht anerkennen. Wir haben es öffentlich gemacht, aber wir wollen ihm keine Ehre geben. Wir haben das Christentum aufgegeben, aber wir wissen nicht, wie wir es ersetzen sollen.“
Hansens Analyse ist mehr als nur eine soziologische Beobachtung; sie ruft uns zu geistlicher Nüchternheit auf. Die Wahrheit des Evangeliums und die Wirklichkeit der Auferstehung Christi hängen nicht davon ab, ob eine Kultur einen „empfundenen Bedarf“ danach hat. Unsere Berufung als Christen ist es daher nicht, in Kulturpessimismus zu verfallen, sondern in liebender Spannung zu unserer Gesellschaft treu Zeugnis von der Gnade und Wahrheit abzulegen, die allein in Jesus Christus zu finden ist und für jeden Menschen von höchster Notwendigkeit ist.
Der vollständige englische Artikel ist auf der Webseite von The Gospel Coalition zu lesen: https://www.thegospelcoalition.org/article/christianity-no-longer-feels-necessary-soon/
