Das Nicänische Bekenntnis: Fundament der Einheit oder Schauplatz tiefer Gräben?
In einer Zeit, in der die Suche nach kirchlicher Einheit oft im Vordergrund steht, lohnt sich ein genauer Blick auf die Grundlagen, auf denen diese Einheit ruhen soll. Ein aufschlussreicher Kommentar von David W. Virtue auf virtueonline.org analysiert eine Ansprache des anglikanischen Erzbischofs von Alexandria, Samy Fawzy Shehata, die er anlässlich des 1700-jährigen Jubiläums des Nicänischen Bekenntnisses hielt. Die darin aufgeworfene Frage ist für Christen in Deutschland von bleibender Relevanz: Genügt ein gemeinsames Bekenntnis zur Gottheit Christi für eine wahre Kirchengemeinschaft, wenn das Verständnis des Evangeliums selbst tiefgreifend voneinander abweicht?
Der Artikel berichtet, dass Erzbischof Shehata bei der Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung den Fokus bewusst auf das Nicänische Bekenntnis legte – einen Text, der von römisch-katholischen, orthodoxen und anglikanischen Kirchen gleichermaßen gesprochen wird. In den Worten des Erzbischofs: „In diesem Jahr feiern wir das 1700-jährige Jubiläum des Nicänischen Bekenntnisses, des Bekenntnisses unseres Glaubens, das Jesus Christus als Gott von Gott, Licht von Licht, wahren Gott vom wahren Gott verkündet.“ David W. Virtue bezeichnet diesen Fokus als einen „brillanten Schachzug“, da er strittige Themen vermeidet, die einer echten Einheit im Wege stehen. Der Artikel führt jedoch unmissverständlich aus, dass gerade diese ungelösten Fragen die eigentlichen Hindernisse darstellen.
Im Zentrum der Trennung, insbesondere zwischen Rom und dem reformatorischen Anglikanismus, steht die Lehre von der Rechtfertigung. Virtue erläutert den fundamentalen Unterschied zwischen der römisch-katholischen Lehre der „eingegossenen Gerechtigkeit“ (infusio) und der reformatorischen Lehre der „zugerechneten Gerechtigkeit“ (imputatio).
„Die eingegossene Gerechtigkeit ist die Grundlage für die römisch-katholische Lehre von der Rechtfertigung […]. Thomas von Aquin lehrte: Es ist eine Notwendigkeit für den Menschen, durch seine Werke (Taten) ein Maß an Gerechtigkeit zu erreichen, um gerechtfertigt zu werden. Die Gerechtigkeit Christi wird einem bußfertigen Sünder, der durch Jesus gerettet wird, nicht zugerechnet oder vollständig angerechnet.“
Demgegenüber, so der Artikel, steht das reformatorische Verständnis, das für Lutheraner und die reformierte Tradition, einschließlich der anglikanischen, grundlegend ist:
„Die zugerechnete Gerechtigkeit ist die Grundlage für die Rechtfertigung […]. Die Gerechtigkeit Christi wird denen, die an ihn glauben, zugerechnet oder so zugeschrieben, als ob sie ihre eigene wäre (2. Kor 5,21).“
Diese Gegenüberstellung macht deutlich, dass es hier um zwei verschiedene Verständnisse des Heils geht.
Die Betonung des Nicänischen Bekenntnisses ist von unschätzbarem Wert; es ist das ökumenische Bollwerk gegen Häresien, die die Gottheit Christi leugnen. Dennoch zeigt die Analyse auf schmerzliche Weise, dass wahre Kirchengemeinschaft mehr erfordert als die Zustimmung zu einem altkirchlichen Bekenntnis, so fundamental es auch sein mag. Die Frage, wie ein sündiger Mensch vor einem heiligen Gott gerechtfertigt wird, ist keine Nebensache, sondern das Herz des Evangeliums. Für Christen in Deutschland, die sich nach echter, biblisch gegründeter Einheit sehnen, ist dies eine Mahnung, die Klarheit des Evangeliums der Gnade niemals zugunsten einer oberflächlichen Einigkeit zu opfern.
Der vollständige Artikel von David W. Virtue ist hier in englischer Sprache zu lesen: https://www.virtueonline.org/post/alexandria-archbishop-focuses-on-nicene-creed-avoids-disputational-doctrinal-bullets-in-unity-talks
