Der Vater, den wir nicht kannten: Warum Jesu Anrede für Gott alles veränderte

Für Christen ist es eine Selbstverständlichkeit, Gott im Gebet als „unseren Vater“ anzusprechen. Doch diese vertraute Anrede war zur Zeit Jesu weder selbstverständlich noch harmlos. In einem aufschlussreichen Artikel für Crossway legt der anglikanische Theologe Gerald Bray dar, dass die christliche Theologie genau in dem Moment begann, als Jesus Gott seinen Vater nannte – eine Handlung, die von seinen Zeitgenossen zu Recht als radikaler und sogar anstößiger Anspruch verstanden wurde.

Bray argumentiert, dass Jesu Gebrauch des Vater-Titels eine völlig neue Dimension der Gottesbeziehung eröffnete, die im Alten Testament so nicht bekannt war. Zwar gibt es alttestamentliche Stellen, an denen Gott als Vater Israels bezeichnet wird, doch der Autor zeigt auf, dass diese Kontexte sich deutlich von der Lehre Jesu unterscheiden. Oft geschieht dies im Zusammenhang von Sünde und Gericht, wo Israel an Gottes Barmherzigkeit als sein Schöpfer und Bundesgott appelliert. Es ist, so Bray, eine Beziehung, die auf Gottes souveräner Erwählung beruht, nicht auf einer inneren Wesensgemeinschaft. Der Autor fasst die Reaktion der jüdischen Führung auf Jesu Anspruch in Johannes 5 zusammen, wo Jesus seine Sabbat-Heilungen damit rechtfertigt, dass sein Vater ununterbrochen am Wirken sei: „Darum nun suchten die Juden noch mehr, ihn zu töten, weil er nicht allein den Sabbat brach, sondern auch sagte, Gott sei sein eigener Vater, und machte sich so selbst Gott gleich“ (Joh 5,18).

Der Artikel führt aus, dass Jesus diesen Anspruch weiter untermauerte, indem er eine geistliche Sohnschaft von einer rein leiblichen Abstammung unterschied. In der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern (Johannes 8) stellt Jesus klar, dass ihre Taten nicht Gott, sondern den Teufel als ihren geistlichen Vater offenbarten, obwohl sie leibliche Nachkommen Abrahams waren. Gerald Bray schlussfolgert: „…als Jesus Gott seinen Vater nannte und seine Jünger lehrte, dasselbe zu tun, tat er etwas Neues, und die Reaktion der jüdischen Führer, die ihn hörten, bestätigt uns in dieser Wahrnehmung.“

Diese Beobachtung ist von tiefgreifender Bedeutung. Dass wir Gott „Vater“ nennen dürfen, ist keine allgemeine religiöse Möglichkeit, sondern ein unverdientes Vorrecht, das uns allein durch den wahren und ewigen Sohn, Jesus Christus, geschenkt wird. Es ist die Frucht unserer Adoption, die durch seinen Tod und seine Auferstehung ermöglicht wurde. Die Anrede „Vater“ verweist uns also nicht nur auf Gottes Güte, sondern vor allem auf die Einzigartigkeit Christi und das Herz des Evangeliums: Nur in Ihm, dem Sohn, haben wir Zugang zum Vater.

Der vollständige englische Artikel ist eine Adaption aus Gerald Brays Buch A History of Christian Theology und kann hier gelesen werden: https://www.crossway.org/articles/christian-theology-began-when-jesus-called-god-his-father/

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