Fünf Mythen über Liturgie
Der Begriff „Liturgie“ löst bei vielen evangelikalen Christen in Deutschland Unbehagen aus, oft wird er mit leeren Ritualen oder unbiblischen Traditionen gleichgesetzt. In einem erhellenden Artikel für Crossway.org räumt der Theologe Jonathan Gibson mit fünf gängigen Mythen über die Liturgie auf. Seine Ausführungen bieten eine wichtige biblische und pastorale Perspektive, die uns hilft, die Art und Weise, wie wir Gott anbeten, neu zu durchdenken.
Der erste Mythos lautet, Liturgie sei kein biblisches Wort. Gibson stellt klar, dass das Wort vom griechischen λειτουργία stammt, was „Dienst“ bedeutet und im Neuen Testament sowohl für unseren allgemeinen Dienst an Gott als auch spezifisch für den formellen Gottesdienst verwendet wird (z.B. Hebräer 9,21). Liturgie ist also zuerst ein biblisches und dann erst ein kirchliches Wort.
Zweitens wird oft angenommen, nur bestimmte Kirchen hätten eine Liturgie. Der Autor argumentiert jedoch, dass dies unzutreffend ist: „Da es bei der Liturgie um die Abfolge der Gottesdienstelemente geht, ist die Frage nicht, ob eine Gemeinde eine Liturgie hat, sondern nur, welche.“ Jede Gemeinde, ob mit einem festen Gebetbuch oder einer wöchentlich wechselnden Ordnung, hat eine Liturgie. Sie ist unvermeidbar.
Der dritte Mythos besagt, Liturgie sei für die persönliche „stille Zeit“ irrelevant. Gibson wendet dasselbe Prinzip hier an: Jeder Christ hat eine persönliche Andachtsordnung – eine Abfolge von Gebet und Bibellese. Die Frage ist also nicht, ob wir eine Liturgie haben, sondern wie gut sie ist und wie wir sie durch die Schätze der Kirchengeschichte bereichern können.
Viele befürchten, eine feste Liturgie ersticke den Heiligen Geist und führe zu Namenschristentum. Gibson hält dem entgegen, dass Gott selbst uns feste Gebete gegeben hat. Er verweist auf den Psalter als „ein Gesangbuch voller feststehender Gebete“ und auf das Vaterunser als ein Gebet, das Jesus seinen Jüngern lehrte. Da der Heilige Geist solche Gebete inspiriert hat, kann ihre treue Verwendung ihn kaum ersticken.
Schließlich der Mythos, Liturgie sei einengend, repetitiv und langweilig. In einer Kultur, die süchtig nach Neuem ist, mag das so scheinen. Gibson vergleicht eine gute Liturgie jedoch mit Leitplanken, die „schwachen Heiligen auf ihrem geistlichen Weg helfen“ und „ihre in die Irre schweifenden Herzen an Gott binden“ können. Eine durchdachte Ordnung kann der Seele Stabilität geben, gerade wenn die eigenen Worte fehlen.
Gibsons Klärungen helfen uns, eine oft unfruchtbare Debatte hinter uns zu lassen. Die entscheidende Frage ist nicht, ob unsere Anbetung „liturgisch“ oder „spontan“ ist, sondern ob ihre Ordnung – ob niedergeschrieben oder nicht – uns tiefer im Evangelium von Jesus Christus verwurzelt. Eine biblisch fundierte Liturgie ist kein Käfig für den Geist, sondern ein heilsamer Rahmen, der unsere Herzen und Gedanken beständig auf den dreieinigen Gott ausrichtet.
Der vollständige englische Originalartikel von Jonathan Gibson ist hier zu lesen: https://www.crossway.org/articles/5-myths-about-liturgy/
